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Geschichte Formine

Ute Boikat / Wally Steimke

Gianni und Mario Pazzi

Es war die Flucht aus Mailand in der letzten Phase des Krieges und die Nachbarschaft der Combatti-Familie, die die Brüder Pazzi an den Lago Maggiore brachte. Sie fanden zunächst in San Bartolomeo Unterkunft und erstanden dann in Formine den südlichen Teil des Casa Rossa-Komplexes, das "Refugio Pazzi" (direkt gegenüber der Mailänder Villa). Erst später kauften sie einen zweiten Trakt dazu, das "Casa Caval" - beide direkt nebeneinander, um den nunmehr zwei Familien Platz zu geben.

Gianni, der bereits ein Jugendlicher war, und Mario, noch ein Knabe, erinnern sich gut an Rina Pedroni und die Verhältnisse in Formine während der Nachkriegszeit. Ihr Blick ist davon beeinflusst, dass sie sich als Mitglieder einer neu dazu gekommenen Familie von den Alteingesessenen nie ganz akzeptiert fühlen konnten. Beide haben dies intensiv und als ausgrenzend empfunden. Ihr Name, Pazzi - die Verrückten, machte es auch nicht leichter.
Viele Informationen über die anderen Familien und die vorangehenden Ereignisse haben sie damals darum nicht besessen.

Rina Pedroni und Dr. Martignoni
Die Pazzis lernten Rina Pedroni als eine Bewohnerin des Casa Rossa-Komplexes kennen, in einer Phase, wo das Haus ansonsten leer stand. In ihrer Erinnerung ist sie eine feindseelige, unzugängliche Frau, im Streit mit ihren Nachbarn. Die Wegführung zwischen den Gebäuden war damals anders als jetzt. Die Treppe runter vor dem "Refugio Pazzi" war der Hauptzugang für Rina zum Casa Rossa. Auf der langen Treppe hoch zum jetzigen Speisesaal haben sie Rina noch heute am besten vor Augen, von oben herab. Offenbar hat sie gelegentlich Dienstleistungen von den Kindern und Jugendlichen in Anspruch genommen, denn die Pazzis erinnern sich daran, dass ihre Schwester von Rina geschlagen wurde, weil sie nicht gehorchte.
Mehrfach kamen potentielle Käufer für den Hotelbau, die Rina jedoch nach Kräften abwehrte. Auch die Pazzis haben diese Interessenten als unangenehm betrachtet, wie z.B. den "Spekulanten(?)" Santore, auf dessen groß gemaltes S man immer noch im Dorf trifft. So kam offenbar der Besitzerwechsel, der zu einer Nutzung des Hoteltraktes geführt hätte, nicht oder erst später zustande.
Besonders von Feindseeligkeit geprägt war das Verhältnis von Rina zu dem neuen Besitzer der Mailänder Villa, dem Pharmazeuten und Fabrikanten Dr. Martignoni.
Dr. Martignoni bewohnte die Villa bis 1964. Auch eine Dame lebte im Haus, die aber nicht wie seine Ehefrau angeredet wurde. Die außerordentliche Pracht der Gartenanlagen und die Voliere mit den Papageien und Goldfasanen faszinierten die Dorfbewohner. Dr Martignoni residierte in der Villa mit 5 Bediensteten. Er benötigte schon allein eine Hilfskraft für die Betreibung der Heizung in seinem Haus. Die Gebrüder Pazzi haben ihn als freundlich und großzügig in Erinnerung. Er richtete z.B. ein gastfreies Fest aus, bei  dem seine Bediensteten mit weißen Handschuhen den  Dorfbewohnern servierten.
Die Brüder Pazzi wussten nicht, dass Rina Pedroni vorher die Besitzerin der Villa war und sich unfreiwillig davon trennen musste, was ja immerhin den Pazzis damals eine Erklärung für die beiderseitige Abneigung der Parteien geliefert hätte.
Dr. Martignoni musste 1964 seinen Sohn in Genua begraben und verließ Formine, um niemals zurückzukehren. Er starb offenbar unmittelbar in Verbindung mit dieser Trauerfeier.
Rina Pedroni wurde vermisst. Ihr Leichnam wurde nach Meinung der Pazzis nördlich in Richtung Alm unter einem Abhang gefunden und erst spät geborgen. Hier weichen die Erinnerungen der Pazzis von den Erinnerungen Gino Jelmonis ab, der auf den Abhang am Weg nach Rondonico deutet.
Rina wurde in San Bartolomeo in Montibus begraben. An ihren Sohn Denis gibt es so gut wie keine Erinnerungen. Er hielt sich offenbar nie längere Zeit in Formine auf, sondern lebte in England, wo er eine militärische Karriere starten wollte.

 

Kriegsende
Die Gegend um Formine war ein Gebiet des Widerstandes. Gegen Kriegsende besetzte ein deutsches Kommando den Ort. Alle Einwohner waren in die Schweiz geflohen. Der Pfarrer von San Bartolomeo, Don Giovani Elena, und der Professor an der Universität Turin, Don Andrea Bava, verhandelten mit den Deutschen, die das Dorf schleifen wollten, um es als Unterschlupf unbrauchbar zu machen. Die Deutschen bestanden auf eine Rückkehr der Bewohner und gaben entsprechende Sicherheitsgarantien. Die Zerstörung konnte abgewendet und die Rückkehr von den beiden Verhandlungsführern in die Wege geleitet werden. Die Pazzis erinnern sich an den Zug der Dorfbewohner bei diesem Gang zurück aus der Schweiz über die Berge nach Formine.
Das Kommando blieb nicht lange in Formine, sondern zog von dort aus nach Cannobio weiter, und belegte das Waisenhaus als Quartier.
Mit diesem Verlauf hatte Formine mehr Glück als das Dorf San Pizzocca oberhalb Formines, das zerstört und nie wieder aufgebaut wurde.

 

Bewirtschaftung
Die Pazzis erinnern sich an die harten Lebensbedingungen. Alles am Berg wurde für den Lebensunterhalt genutzt.
Die Kinder und Jugendlichen gingen zwar zur Schule in San Bartolomeo, waren aber auch sehr stark in die Arbeit einbezogen. Sie unterstützten die Transportarbeiten der Frauen, die sich so ein Zubrot verdienten. Größtenteils ging es dabei um Holztransporte, den Berg hinab. Viele der Männer lebten nicht im Dorf, da sie - z.B. als Kalkmaler - in anderen Regionen Arbeit gefunden hatten und oftmals jahrelang abwesend waren.
Im Detail erinnern sich die Pazzis an die Anlagen zum Transport der Hölzer, die am Berg geschlagen wurden - eine Art Flaschenzug-Vorrichtung von Höhe zu Höhe. Das System benötigte die Hilfe der Frauen und Kinder, die die Befestigungshaken wieder hinaufschleppten. Die Frauen arbeiteten außerdem in der Tabakfabrik in Brissago. Täglich waren so enorme Fußmärsche an der Tagesordnung.

Es gab sehr detaillierte und alles umfassende Nutzungsrechte, ob es den Wald, den Boden, die Tiere oder den Lago betraf. Auch die Kastanien des Waldes hatten ihren Besitzer, die Kinder durften sie nicht für sich auflesen, sondern mussten sie abliefern und andernfalls mit Bestrafung rechnen. Der Verkauf der Kastanien war ein Gewerbezweig.
Es gab die Inhaber von Nutzungsrechten auf der einen und die Anbieter von Dienstleistungen auf der anderen Seite, die mit ihren kleinen Anbauflächen und den dort mühsam gehaltenen Tieren ein allzu karges Leben führten.


Notizen von Ute Boikat und Wally Steimke,
im Gespräch mit Gianni und Mario Pazzi
Formine , Juli 2007