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Geschichte Formine

Uta Hartmann-Beth

Mario Zanni

Zusammenfassung eines Gesprächs mit Mario Zanni

Mario Zanni wurde 1902 in Formine geboren. Damals lebten in Formine 20 Familien. Die damalige Lebenserwartung schätzte er auf 40 bis 50 Jahre, aber nicht selten starben die Kinder bereits mit 8 oder 9 Jahren.

Die Lebensbedingungen waren äußerst hart: während die Männer sich als Kalkmaler in Oberitalien, in der Schweiz und vor allem in Frankreich verdingten, versorgten die Frauen das Haus, das wenige Vieh und den Garten. Sie arbeiteten in der Tabakfabrik von Brissago, schleppten - für umgerechnet 0,20 Euro am Tag - auf dem Rücken die Steine herab, die man für die Mauern am Ufer des Lagos und für die Häuser in Valmara unterhalb von San Bartolomeo brauchte. Einmal im Monat dann schleppten sie in ihren Kiepen bis 60 Kilo Holz an den Lago - wo unterhalb von Rondonico und in der Bucht von Valmara ein Schiff anlegte, um das Holz als Brennholz für die Bäckereien in Mailand weiter zu transportieren. Für diese Arbeit erhielten die Frauen 3 Lire pro Tag.

Der Vater von Destefani ist 1907 nach Formine gekommen, um den Holz-Transport zu organisieren. Er, Mario, habe als Kind ebenfalls für Destefani gearbeitet.
In diesem Zusammenhang erwähnte Mario übrigens, dass das Holz in einem bestimmten Rhythmus von Santa Agata bis hin zur Grenze geschnitten und geschlagen worden sei - nach jeweils 10 Jahren fing man in Santa Agata wieder an. Die Schule befand sich in San Bartolomeo. Im Sommer sei man barfuss hinuntergelaufen, im Winter auf dem Rücken eines Maultieres geritten. Ein Mittagessen bestand in der Regel aus einem kleinen Laib Brot und etwas Käse. Fleisch hat es nur zu Weihnachten gegeben, dann, wenn die Väter zurückgekehrt sind.

Das älteste Dorf war das heute zerstörte San Pizzocca - dort habe sich Mario während des ersten Weltkrieges aufgehalten. Formine schätzte er auf 5 oder 6 Jahrhunderte alt, San Bartolomeo auf 3 bis 4 Jahrhunderte. Die Kirche von San Bartolomeo in Montibus datiert er ganz genau auf 1040.


In Formine gab es zu seiner Zeit noch die Kneipen - die "Osteria", die uns bekannte alte Dorfkneipe, die "Osteria degli Cacciatori" im ersten Stock des Studentenhauses, und eine im Haus der Pazzis, unterhalb des Cavallo, der übrigens die übermalung eines Tableaus ist, das Mario Zanni dort 1928 gemalt hat, als er mit einer Schwester von Pazzis Mutter verheiratet war, einer Tochter von Mario Manzoni. Seine Frau, von der er 1941 geschieden worden ist, weil sie das Geld, was er in Paris als Maler verdient habe, stets mit vollen Händen ausgegeben und "immerfort spazieren" gegangen sei, sei die eigentliche Besitzerin des Pazzi-Hauses. Sie habe aber das Geld für ihren Krankenhausaufenthalt in Cannobio - wo sie 1982 im Hospital gestorben ist - nicht bezahlen können und so sei das Haus an die Kommune verkauft worden. Mit dieser Frau habe Mario Zwillinge gehabt, doch seien beide bereits gestorben, am Suff offensichtlich, und zwar im Alter von 55 und 56 Jahren. Er habe jetzt noch einen Enkel. Den habe er ausfindig gemacht und der habe ihn auch einmal besucht. "Heutzutage, wo es den Leuten gut geht, haben sie ja nur mehr ein oder zwei Kinder!"
Mario ist nach dem Militärdienst, den er in Jugoslawien absolviert hat, 1923 zur Ausbildung als Kalkmaler nach Paris gegangen und dort hat er sechs Jahre gelernt. Bis 1945 gab es in der Gegend für die Männer nur den Beruf des Kalkmalers, erst nach dem zweiten Weltkrieg bildete man auch Schreiner, Maurer und Elektriker aus.

1928 hat er sich ein Akkordeon gekauft und sich selbst das Spielen beigebracht. Mit seiner Musik hat er sich dann Zeit seines Lebens ein Zubrot verdient: am Wochenende in den kleinen Bars von Paris, später in Deutschland und nach dem Krieg auf Festen in der Schweiz, im Valle Vigezzo - wo er noch immer die Sommermonate bei einem befreundetem Mit-Spieler in Santa Maria Maggiore verbringt. Natürlich auch rund um Bartolomeo. (Auf dem Fest vor der Kirche mein ich ihn auch schon spielen gesehen zu haben.)
Besonders gern erinnert sich Mario an das Weihnachtsfest im Jahre 1936, wo er in Formine zum Tanz aufgespielt hat.

Nach Deutschland ist er 1940 gekommen, nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris. Er hatte gerade beim italienischen Konsulat seine Scheidung beantragt. Ob er nun von den Deutschen ohne Papiere aufgegriffen worden ist oder aber ihn die Enttäuschung darüber, dass man ihm auf dem Konsulat Schwierigkeiten mit dem Scheidungsantrag machte, soweit fortgetrieben hatte, ist mir in dem Gespräch nicht klar geworden. Auf jeden Fall ist er 1940 nach Deutschland gekommen, und zwar nach Oschersleben, 20 km entfernt von Magdeburg. Dort habe er Kampfflugzeuge mit Nitrolack gespritzt und nebenbei für die Frauen der örtlichen SS-Größen Bilder gemalt. Die zwei Zigaretten, die er pro Bild erhielt, verkaufte er auf dem schwarzen Markt - und wegen Schwarzhandels sei er dann noch im letzten Kriegsjahr auf Betreiben eines eifersüchtigen Ehemannes verhaftet worden. Als die Amerikaner kamen, habe er nur noch 35 Kilo gewogen. Man bot ihm nach der Befreiung an, nach Italien zurückkehren zu können, aber er befürchtete, nach Sizilien verfrachtet zu werden, und schlug sich dann durch nach Osnabrück. Dort habe er für Essen und Trinken in den großen Offizierskasinos der Engländer gespielt - und durch den regen Tauschhandel mit den Holländern war sein Essen so nahrhaft, dass er bald wieder zu Kräften kam. Freunde ließen ihm immer wieder ausrichten, er möchte doch nach Paris kommen - aber er traute sich nicht mit dem Flugzeug zu fliegen, obwohl er wohl jede Menge Mitflug-Möglichkeiten hatte. Irgendwie ist er dann aber doch nach Paris gelangt, wo er jedoch keine Möglichkeit mehr für sich sah. Er schlug sich dann durch nach Turin und Mailand, wo er in der ungeliebten Stadt von 1948 bis 1956 geblieben ist.

1956 ging er nach Locarno, wo er bis 1967 gearbeitet und Villen und öffentliche Gebäude verschönt hat. 1969 erhielt Mario einen letzten Großauftrag, und zwar die Ausmalung der Kirche in Montey im Valle Varese. Hier erzählte er von zwei Erfahrungen: Erstens, dass am Sonntag vor dem allgemeinen Kirchgang nirgendwo ein Frühstück zu kriegen gewesen wäre, er selbst aber abgelehnt habe, mit in die Kirche zu gehen, wo er danach ein Frühstück bekommen hätte. Schließlich habe er sich in der Kirche schon die ganze Woche aufhalten müssen. Und zweitens, dass man den weißen Wein zum Verdünnen der Dispersionsfarbe benutzte, weshalb noch heute für ihn zum Trinken nur Vino Rosso in Frage komme. über die Restauration der Kirche von Montey habe am Ende sogar das Fernsehen berichtet.

Mario hat noch ein zweites Mal geheiratet, diesmal eine Schweizerdeutsche, die im Gegensatz zu seiner ersten Frau immer nur habe schaffen wollen. Sie ist 1984 gestorben. Er hat erst noch im Haus ihrer Verwandten gewohnt, das ist aber nicht gut gegangen - und jetzt hat er ein Zimmer mit Dusche in San Bartolomeo gemietet, wo er übrigens auf Auftrag Bilder nach den Motiven von Postkarten malt. Früher hat er in der Kneipe von San Bartolomeo gegessen, jetzt isst er täglich im Valmara. Auf dem Weg vom Restaurant in seine Wohnung, wo er zur Zeit intensiv ein Geschichtsbuch über Barbarossa studiert, (was seine Meinung darüber, dass es stets die Katholische Kirche war, die das Land in Kriege gestürzt habe, noch bestärkt), schimpfte er noch mal über Mussolini, der für seine Heimat gar nichts getan habe. Zum Beispiel sei seit 1922, als der Berg runtergekommen sei und die tiefe Schlucht zwischen Formine und San Bartolomeo entstanden ist, nichts mehr an den Straßen gemacht worden. Die Leute seien nur nach Cannobio geholt worden, für San Bartolomeo und Formine, geschweige denn San Pizzocca sei auch in der Folgezeit nichts geschehen.

Mario hängt an Formine. Zu viele Erinnerungen sind damit verbunden und er würde gern eine Woche oben verbringen. Die Frage der Verständigung müsste ausreichend gewährleistet sein, denn es ist mordsanstrengend für ihn, wenn man nur unvollkommen Italienisch oder Französisch spricht; sein Deutsch reicht inzwischen natürlich auch nicht mehr.

Er hat noch seine Farben, aber, wie er betont, selbst zu malen, schaffe er nicht mehr. Immer wieder beschäftigte ihn, warum die Pedronis nicht verkauft haben. Von Pedroni, dem Vater, hielt er übrigens besonders viel als Maler. Auch vermutete er, dass in dessen Haus besonders schöne Fresken zum Vorschein kommen könnten.

Er hat klare Vorstellungen über die Bilder in den Kirchen von San Bartolomeo sowohl in montibus als auch im Ort. Auch über die Vertreter der örtlichen Kirche. Mario Zanni hat Witz und Humor und ganz offensichtlich Zutrauen zu Klaus (Liebezeit). Es lohnt sich, das Gespräch mit ihm fortzusetzen - denn ein Aspekt, über den er offensichtlich viel weiß, der aber an jenem Nachmittag, als Klaus und ich bei ihm waren, gar nicht zur Sprache gekommen ist, ist das örtliche Schmugglerwesen.

Außerdem bezeichnete Giacomo, der Wirt, als beste Informationsquelle über Formine Herrn Destefani aus Cannobio, der links von der Kirche am Hafen wohne. Auch die Frau von Giacomo zeigte lebhaftes Interesse daran, dass wir uns über die Geschichte der Gegend ein Bild machen wollten, und unterstützte uns beim Fragen. Wahrscheinlich lohnt es sich auch, mit den Wirtsleuten zu sprechen.