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Kunst in Formine

Thomas Huber

Party in Formine

Rede zur Einweihung am 29. Juli 2010 in Formine

Tempera

Auf den ersten Blick wird sich mancher fragen: „Was ist denn hier los?“ Er schaut verwundert das Bild an: „Was machen die denn da?“ Ich könnte antworten: „Die stecken alle unter einer Decke.“ Das Sprichwort kennt man. Hier ist es zum Bild geworden. Wenn andere gemeinsam unter einer Decke stecken, dann haben sie zusammen etwas vor, oder haben womöglich gemeinsam etwas ausgefressen. In der Feststellung „Die stecken zusammen unter einer Decke“ tönt auch die Vermutung mit, dass die Beteiligten durch ein Geheimnis miteinander verbunden sind, von dem wir nichts wissen, aber den Verdacht hegen, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Wie kommt es, dass wir einer Situation, die wir auf Anhieb nicht durchschauen, etwas Abwegiges, vielleicht sogar etwas Verbotenes unterstellen? Es könnte doch durchaus auch etwas Gutes und Schönes sein, das diese Menschen unter dem Teppich teilen. Hier in Formine, hoch über dem Lago Maggiore, bin ich in diesen sonnigen und sommerlich heißen Tagen auf eine Gemeinschaft getroffen, die in entspannter und solidarischer Weise die Ferientage zusammen gestaltet, aufeinander zugeht und sich jeden Tag abwechselnd mit kulinarischen Genüssen verwöhnt. So also kann das Bild auch verstanden werden: Hier stecken welche gemeinsam unter einer Decke. Das geschieht ohne böse oder verborgene Absichten. Man lässt es sich zusammen auf unbeschwert heitere Art einfach gut gehen.


Die Szene auf diesem Bild ist auf jeden Fall in fröhlichen und heiteren Farben gemalt. So vermittelt das Gemälde in seiner Erscheinung die Vorstellung einer lebenslustigen Gemeinschaft, die nichts zu verbergen hat, sondern entspannt und ausgelassen dem Grund ihrer Gemeinsamkeit auf der Spur ist.


Ich bin immer wieder überrascht wie unterschiedlich die Betrachter ein Bild anschauen. Die einen stehen stumm davor und lassen ihren Blick darüber schweifen. Andere beginnen sofort mit Fragen: „Warum kriechen die Menschen da unter den Teppich?“ „Sind etwa alle Leute nackt?“ Als könnte man es nicht selber sofort erkennen. Sind es alles Frauen oder gibt es auch Männer darunter?“ Dann sagt einer schon:“ Das hier ist eindeutig eine Frau. Sie hat lackierte Zehennägel.“ „Was trägt das Zimmermädchen auf dem Tablett?“ „Ist das nicht die Tür, die hier, neben dem Bild genauso nochmals vorkommt?“ „Da ist ja der Leuchter zu erkennen, wie er auch über dem Bild in Wirklichkeit vorkommt!“ So wenden sich die anfänglichen Fragen in Antworten, die den Kommentierenden jedoch in einer Unsicherheit belassen. Ist das Bild wirklich so gemeint, wie er sieht und interpretiert, oder gibt es hinter der Situation noch eine Bedeutung, die ihm verborgen geblieben ist? Der Fragende stellt fest, dass die Antworten, die er sich selber gegeben hat, spekulativ bleiben. Es will ihm nicht gelingen, sie in einer unzweifelhaften Eindeutigkeit zu versichern. Jener aber, der nur stumm vor dem Bild steht, fragt er sich dasselbe oder beschäftigen ihn ganz andere Dinge am Bild? Er kann das Bild auch nach der Maßgabe betrachten, wie die Farben darauf verteilt und aufgebracht sind, wie sich die Farbigkeiten im Bild entsprechen oder in absichtsvoller Spannung zueinender stehen. Er kann Linien erkennen, die sich kreuzen, kann Helligkeiten ausmachen, die auf etwas Dunkles an anderer Stelle antworten. Dafür Worte zu finden ist schwieriger. Es kann sich dabei jedoch eine Empfindung einstellen, die den Betrachter spüren lässt, dass hier alles seinen wohl bedachten Ort hat, dass die gestaltete und bemalte Fläche in jedem ihrer Teile einen Bezug zum Ganzen hat. Bei dieser stummen Anschauung verlieren sich die spekulativen Fragen nach Sinn und Bedeutung des Dargestellten und ein Gefühl für Ordnung und Halt breitet sich aus. Wohlgefallen tritt an die Stelle des beunruhigten Fragens.


Keiner von uns mag dieses Bild nur auf die eine oder die andere Art betrachten, also nur nach seiner Bedeutung fragen oder sich allein bei seiner Schönheit aufhalten. Ein Bild darf zu jedweder Frage Anlass sein, man sollte in jeder Richtung darüber spekulieren dürfen. Die Fragen, die ein Bild umkreisen, es auch in weiten Bögen umrunden, haben ihre Mitte in der unaussprechlichen aber sichtbaren Setzung der Farben, Formen und Linien ebendieses Bildes. Auch die spekulativsten Antworten darauf werden von der inneren Ordnung der Komposition und vom wohlbedachten Auftrag der Farben im Bild getragen. Die ausholenden Fragen, wie auch der stumme Nachvollzug der malerischen Setzungen im Bild halten sich so die Waage.

Die Menschen hier kriechen unter einen Teppich, so dass man nur noch ihre Beine sehen kann. Was suchen sie darunter? Ein Teppich, so kommt es mir vor, ist einem Bild sehr ähnlich. Er hat vier Ecken wie ein Bild und ist ebenso flach wie dieses. Ein Muster ist in den Teppich eingewebt; auch das verdeutlicht seinen bildhaften Anspruch. Dieses mäandrierende Band kann man bei näherem Hinsehen an der Decke des Speisesaales hier im Haus wiederfinden. So verstanden befinden wir uns alle unter einer Decke, dann jedenfalls, wenn wir gemeinsam das Essen im Speisesaal einnehmen. Wir stecken alle unter einem Teppich, wie ich eingangs schon festgestellt hatte. Wenn also die Menschen hier unter den Teppich kriechen, der einem Bild so ähnlich ist, so tun sie es, um den Sinn des Bildes zu ergründen. Sie kriechen hinter die wohlgefällig gestaltete Oberfläche des Bildes, weil sie Tieferes und Bedeutungsvolleres darunter vermuten. Sie machen nichts anderes als jener Frager, der vor dem Bild nach dessen Gründen sucht. Sie tun es nur gründlicher. Was aber finden die Menschen unter dem Teppich?


In der Türöffnung zu diesem Raum steht ein Zimmermädchen. In seiner adretten Aufmachung erinnert es uns daran, dass dieses Haus einmal ein Hotel war und ebensolche Dienstboten die Gäste bewirteten. Sie balanciert ein Tablett, darauf stehen eine blaue Flasche und zwei Gläser. Für wen ist das Getränk bestimmt? Vielleicht bietet sie es dem Mann an, der mit dem Rücken zum Fenster steht. Was wird passieren, wenn er sich darauf einlässt? Das blaue Getränk könnte seine Wahrnehmung so verändern, vielleicht seine Sinne erweitern, dass ihm das Zimmer hier noch weiß, dann so blau erscheinen würde wie auf dem Bild gezeigt. Das Zimmermädchen lächelt geheimnisvoll. Vielleicht hat sie bereits den anderen von dem Getränk zu kosten gegeben, so dass sich diese enthemmt gemeinsam unter den Teppich geworfen haben. Das Getränk hat sie dazu verführt, hinter dem Bild, hinter seiner geordneten Oberfläche, mehr zu vermuten als auf den ersten Blick zu sehen ist. Vielleicht begann das Muster im Teppich vor ihren Augen an zu schwingen und verführt vom Tanz der Linien, waren sie überzeugt dass sich ihnen unter dem Teppich tiefere Schichten der Bedeutung des Musters öffnen könnten, in die sie hinabsteigen könnten, damit ihnen dort Wahrheiten offenbar würden, die sie bisher nicht einmal zu ahnen gewagt hatten. Gleich wird das Zimmermädchen den nächsten Schritt in den Raum machen. Der Mann wird sich vom Fenster lösen und auf sie zugehen. Sie hält ihm das Tablett entgegen. Er nimmt eines der Gläser. Das Bild hält genau diesen Moment fest, es hält inne vor dem was gleich geschehen wird. Wir, die Betrachter halten den Atem an. Wird er der Betörung erliegen?


Bei längerer und eingehender Betrachtung des Bildes habt Ihr gewiss festgestellt, dass dort im Bild sich wiederholt, was hier im Raum schon ist. Der dargestellte Raum entspricht jenem, in dem wir uns jetzt aufhalten. Wir erkennen es an der Anordnung des Fensters und der Türe. Wir finden den Leuchter an der Decke an gleicher Stelle im Bild wieder. Die aufmerksamen Ohren an der Türe lauschen auch an gleicher Stelle der gemalten Türe meinen Worten, so wie auch Ihr mir Eure Aufmerksamkeit schenkt und zuhört. In einem wesentlichen, ja entscheidenden Punkt jedoch fehlt die Übereinstimmung von Vorbild und Abbild. Habt ihr es auch schon bemerkt? Das Bild fehlt! Im Bild ist das Bild, das doch so offensichtlich auf die Wand gemalt scheint, gar nicht da. Wie lässt es sich erklären? Hat der Maler das Bild vergessen? Oder ist es vielmehr so, dass es hier im Raum gar kein Bild gibt? Vielleicht habe ich Euch mit Worten ein solches nur vorgegaukelt, habe Euch mit dem blauen Dunst aus der Flasche benebelt und Ihr seid in die tiefen Abgründe des Scheins eingetaucht und wisst die Realität nicht mehr von den Bildern, die uns die Einbildung vorspielt, zu unterscheiden.


Nein das kann nicht sein. Wie solltet Ihr schon etwas getrunken haben. Uns sind nur die Zeiten kurz durcheinandergeraten. Das kann in der sommerlichen Hitze schon mal passieren. Mit unserer Wahrnehmung ist alles in bester Ordnung. Wie wir sehen tritt erst jetzt das Zimmermädchen mit dem Tablett in unseren Raum, so als hätte das Bild diesen Moment voraus gesehen. Auf dem Tablett balanciert es die blaue Flasche und die Gläser, die für Euch bestimmt sind. Bitte lasst Euch bedienen. Nehmt jeder ein Glas. Dann wollen wir zusammen anstoßen und das neue Bild an seinem festen Ort begrüßen und einweihen.